Rede von Bundespräsident a.D. Joachim Gauck: Eröffnung des Deutschen Stiftungstags 2025

Es gilt das gesprochene Wort.
Es ist mir nicht nur eine Freude, sondern auch ein besonderes Anliegen, zur Eröffnung des Deutschen Stiftungstags 2025 in Wiesbaden bei Ihnen zu sein. In Deutschland allein wirken – direkt oder über Verwaltungsstrukturen – fast 10.000 Stiftungen unter dem Dach des Bundesverbands Deutscher Stiftungen. Was für eine eindrucksvolle Zahl. Damit ist Ihr Verband, der größte und älteste seiner Art in Europa, nicht nur ein Interessenvertreter – er ist eine Stimme der Gemeinverantwortung in unserer Gesellschaft.
Gerade in diesen Tagen denken wir an Margot Friedländer, die mit der Gründung ihrer Stiftung ein Zeichen gesetzt hat – für Toleranz, Menschlichkeit und gelebte Demokratie. Ihr Leben und Wirken erinnern uns daran, wie unersetzlich Stiftungen sind, wenn es darum geht, Werte zu bewahren und Zukunft zu gestalten.
Vor genau elf Jahren hatte ich bereits die Ehre, diese Tagung zu eröffnen, damals in Hamburg, noch als Bundespräsident. Und es gibt noch eine schöne Parallele. Schon damals beinhaltete das Motto einen Bezug zum Thema Mut. Es lautete: „Mut zur Veränderung.“
Wenn wir heute über Mut sprechen – über den Mut, das Miteinander zu stärken –, dann klingt das für einige vielleicht wenig konkret. Für mich klingt es jedoch so: Als bedeutender Teil unserer Zivilgesellschaft stehen Sie alle mit den Stiftungen, für die Sie arbeiten und die Sie leiten, vor gewaltigen Aufgaben. Denn beim „Stärken des Miteinanders“ geht es um nichts weniger als um den inneren Zustand der liberalen Demokratien. Es geht um unsere Fähigkeit, in einer Zeit der Umbrüche, Krisen und globalen Spannungen das Gespräch zu suchen, den Zusammenhalt zu bewahren und das Gemeinsame zu stärken.
Wir erleben nicht nur in Deutschland und Europa gesellschaftlichen Wandel, sondern weltweit einen Epochenbruch, dessen dramatische Auswirkungen immer stärker zu spüren sind. Die offenen Gesellschaften, wie wir sie kennen, stehen unter Druck – von außen, aber auch von innen.
Was sich vielerorts vollzieht, geht über gewöhnliche politische Auseinandersetzungen hinaus. Wir sind Zeugen systematischer Angriffe auf das Fundament demokratischer Ordnung – auf Gewaltenteilung, freie Medien, unabhängige Justiz, auf faire Verfahren und den Schutz von Minderheiten. Diese Angriffe kommen nicht nur im Namen großer Ideologien. Sie kommen im Gewand neoimperialen und revisionistischen Denkens wie in Putins Fall, oder in moderner Gestalt wie im Fall von Trump: im Namen vermeintlicher Effizienz, unter dem Banner nationaler Größe, flankiert von einem technokratischen Denken, das Demokratie nicht mehr als mühsam, sondern als überholt erscheinen lässt. Und sie kommen mit atemberaubender Geschwindigkeit.
Wir erleben seit einigen Monaten, wie in den Vereinigten Staaten – dem Mutterland westlicher Verfassungsdemokratie – ein Präsident ins Amt zurückgekehrt ist, nicht um Institutionen zu schützen, sondern um sie sich dienstbar zu machen. Donald Trump zeigt seine Loyalität nicht gegenüber der amerikanischen Verfassung, sondern er fordert Loyalität zu seiner Person. Und er schreckt dabei nicht zurück vor Methoden, die Politikwissenschaftler als klassische Strategien autoritärer Regime bezeichnen: die Bedrängung unabhängiger Justiz, die politische Säuberung von Behörden, die Missachtung gerichtlicher Urteile, die gezielte Einschüchterung kritischer Medien und die Umgehung parlamentarischer Kontrolle.
Besonders alarmierend ist, dass sich diese autoritäre Tendenz nun auch gegen zivilgesellschaftliche Akteure richtet – gegen genau jene Kräfte, die in einer offenen Gesellschaft Orientierung und Hilfe leisten: Stiftungen und gemeinnützige Organisationen. Wir sehen, wie in den USA Steuerprivilegien infrage gestellt, Diversity-Programme verboten und internationale Förderungen eingeschränkt werden. Was hier geschieht, ist mehr als eine Verwaltungsreform – es ist ein Angriff auf das freie zivilgesellschaftliche Engagement, auf die Idee einer aktiven Bürgergesellschaft. Und damit auch ein Angriff auf das demokratische Ethos, das uns miteinander verbindet.
Die sich abzeichnende Neuordnung des Gemeinwesens in den USA ist eine Absage an das, was die freiheitliche Demokratie im Innersten zusammenhält: die Idee der gleichen Würde, der gleichen Rechte, des gleichen Anspruchs auf Mitsprache.
Diese Entwicklungen haben Konsequenzen für Deutschland und Europa. Denn wer ähnlich wie der russische Aggressor die europäische Union als Bedrohung versteht, wer mit illiberalen Regierungen paktiert und auf Zersetzung statt Zusammenarbeit setzt, der will kein souveränes, handlungsfähiges Europa als Partner. Nicht zuletzt die Parteinahme für die rechtsextremen Kräfte hat dies noch einmal in aller Deutlichkeit gezeigt.
Deshalb stellt sich die Frage: Wie reagieren wir darauf? Wie antworten wir – als Demokratien, als Gesellschaften, als Europäerinnen und Europäer?
Wenn ich in diesen Saal schaue, dann sehe ich einen Teil der Antwort – und einen Grund zur Hoffnung. Denn ich schaue in die Augen von Menschen, die in der Lage und willens sind, in Kategorien gesamtgesellschaftlicher Verantwortung zu denken. Menschen, die nicht bloß willfährig reagieren, sondern im positiven Sinne mitgestalten wollen. Stiftungen sind in dieser Zeit nicht nur Unterstützer der Demokratie – sie sind Verteidiger ihrer Substanz.
Die besondere Bedeutung der Stiftungen besteht darin, dass sie Hüterinnen der Möglichkeiten sind, die uns allen innewohnen. Sie bieten Räume der Verständigung. Sie schaffen Orte des langfristigen Denkens in einer Zeit kurzfristiger Aufgeregtheit. Und sie sind Ausdruck eines Gemeinsinns, der heute mehr gebraucht wird als je zuvor.
Meine Damen und Herren,
wenn ich heute zu Ihnen spreche, dann tue ich das nicht nur als politischer Beobachter. Ich spreche auch als jemand, der aus eigener Erfahrung weiß, wie fragil Freiheit ist – und was es bedeutet, wenn Menschen sich gemeinsam für zuständig erklären und Verantwortung übernehmen.
Die Hälfte meines Lebens habe ich in einem Staat gelebt, in dem bürgerliche Freiheiten systematisch eingeschränkt waren. Die Diktatur der DDR hat über Jahrzehnte hinweg jede Form selbstbestimmten, zivilgesellschaftlichen Engagements unterbunden. Wer sich dort eigenverantwortlich einbringen wollte, geriet schnell unter Verdacht, wurde bespitzelt oder drangsaliert.
Gerade weil ich das Leben unter einem autoritären Regime erlebt habe, ist mir bewusst, wie leicht Menschen schweigen – und wie viel Kraft es kostet, die eigene Stimme zu erheben. In der Opposition, in den Friedensgebeten, in der Bürgerbewegung der DDR waren es oft ganz gewöhnliche Menschen, die in außergewöhnlichen Momenten den Mut fanden, für ihre Rechte, für Demokratie und Freiheit aufzustehen.
Eine lebendige Kultur des Stiftens, wie wir sie heute kennen wäre in diesem System gar nicht denkbar gewesen. Sie hätte der Logik der Kontrolle widersprochen – und dem Geist der Selbstermächtigung. Bis heute empfinde ich eine tiefe Dankbarkeit dafür, dass ich nun in einem anderen Deutschland lebe: in einem Land, das seine Bürger nicht bevormundet, sondern ihnen zutraut, das Gemeinwesen mitzugestalten.
Doch auch in der Freiheit braucht es Mut – Mut zur Verantwortung für sich selbst, für andere, für die Gesellschaft. Freiheit bietet Chancen, fordert aber zugleich Orientierung und die Fähigkeit, Ambivalenzen auszuhalten. Wer unsere offene Gesellschaft mitgestalten will, braucht einen inneren Kompass. Mut heißt: sich der Realität zu stellen, auch wenn sie unbequem ist. In Bewegung zu bleiben, selbst auf unsicherem Boden – und die Balance zu halten zwischen dem Bewahren und dem Aufbruch.
Genau das ist die Herausforderung, vor der unser Land heute steht. Die Vorstellung, dass Frieden in Europa selbstverständlich sei, dass Handel Konflikte entschärfe, dass Demokratien unangefochten seien – all das hat sich als trügerisch erwiesen. Die vermeintliche Stabilität der letzten Jahrzehnte ist endgültig vorbei. Deutschland hat sich viel zu lange in einer geopolitischen Komfortzone eingerichtet – in der Annahme, andere würden unsere Sicherheit garantieren und im Ernstfall unsere Freiheit verteidigen.
Als Land müssen wir daher rasch lernen, mehr Verantwortung zu tragen: Für unsere Sicherheit – und für die unserer Verbündeten. Für die Wehrhaftigkeit unserer Demokratie gegen ihre Feinde. Daraus ergeben sich neue Belastungsproben für Politik und Gesellschaft. Um in der neuen politischen Gegenwart anzukommen, brauchen eine neue Geisteshaltung, einen umfassenden Mentalitätswandel. Die gute Nachricht lautet: Demokratien können an Krisen wachsen – wenn sie bereit sind, sich zu wandeln. Wenn sie den Mut aufbringen, nicht nur zu bewahren, sondern zu erneuern.
In dieser Zeit ist die Arbeit von Stiftungen besonders wertvoll. Und ich bin davon überzeugt, dass Ihr Beitrag in den kommenden Jahren noch wichtiger werden wird. Denn wenn wir über die großen Herausforderungen unserer Zeit sprechen – über den Schutz der Demokratie, über gesellschaftlichen Zusammenhalt, über Bildung, über die Verwerfungen der digitalen Welt, über Nachhaltigkeit – dann sprechen wir über Themen, die nicht in einer Legislaturperiode gelöst sind, sondern Generationenaufgaben darstellen.
Wir brauchen also Ihre Expertise, Wandel zu befördern, zu gestalten und zu begleiten. Denn Stiftungen sind nicht nur Orte des Bewahrens – sie sind Orte des Experimentierens, des Lernens, des Vordenkens. Das unterscheidet sie von politischen Verantwortungsträgern, die es gewohnt sind, in Wahlzyklen zu denken. Es unterscheidet sie auch von Unternehmen, die an wirtschaftliche Zwänge gebunden sind.
Meine Damen und Herren,
wie übersetzt sich all das in unser konkretes gesellschaftliches Leben? Was bedeutet der Epochenbruch für den Alltag, für das Miteinander, für das Vertrauen in die Zukunft? Mut beginnt dort, wo Menschen Verantwortung übernehmen – füreinander, für ihre Nachbarschaft, für das Gemeinwesen, in dem sie leben. Dabei ist eine Realität nicht zu übersehen: Die Stiftungslandschaft in Ostdeutschland ist immer noch schwächer ausgeprägt als im Westen. Von über 25.000 rechtsfähigen Stiftungen in Deutschland haben nur rund 1.800 ihren Sitz in den ostdeutschen Bundesländern. (Das sind gerade einmal 7,2 Prozent – obwohl fast 20 Prozent der Bevölkerung hier lebt.)
Wir kennen die Gründe: In der DDR war Stiften als bürgerschaftliches Engagement nicht vorgesehen, viele alte Stiftungen wurden aufgelöst. Und auch nach der Wiedervereinigung fehlte neben dem Kapital die Geisteshaltung, die existieren muß, um neue Stiftungen in größerem Umfang zu gründen. Doch wo es Nachholbedarf gibt, existieren auch Chancen und Gestaltungsspielraum. Es gibt zahlreiche Belege dafür, dass zum Beispiel Bürgerstiftungen oft mit kleinen Mitteln große Wirkung entfalten. Lokale Projekte können Gemeinschaften auch unter schwierigen Bedingungen stärken. Dort, wo staatliche Infrastruktur schwindet, wo Wege weit und Ressourcen knapp sind, können trotzdem Orte des Zusammenhalts entstehen.
Wer durch die Dörfer und Kleinstädte Ostdeutschlands fährt, sieht eben auch die Engagierten, die mit knappen Ressourcen, aber viel Herzblut ihre Heimat gestalten. Es gibt Menschen, die sich Resignation, Extremismus und einem Geist des Rückzugs widersetzen. Stiftungen können hier besondere Wirksamkeit entfalten – nicht nur durch die Bereitstellung finanzieller Mittel, sondern auch durch die Schaffung von Sichtbarkeit, Vernetzung und Ermutigung.
Deshalb ist die Initiative „Zukunftswege Ost“, die der Bundesverband Deutscher Stiftungen gemeinsam mit starken Partnern ins Leben gerufen hat, ein so wichtiges Zeichen. Sie bündelt Fördermittel, schafft unbürokratische Unterstützung, ermöglicht Kooperationen. Wir dürfen nicht zulassen, dass engagierte Bürgerinnen und Bürger in Ostdeutschland allein gelassen werden.
Doch die Frage, wie widerstandsfähig unsere Demokratie ist, stellt sich in ländlichen Regionen Bayerns genauso wie in Brandenburg. Dort, wo sich Demokratie Tag für Tag beweisen muss, darf Unterstützung nicht ausbleiben. Stiftungen können und müssen hier eine besondere Rolle übernehmen. Nicht als Ersatz für den Staat – aber als Ergänzung, als Impulsgeber, als Mutmacher.
Meine Damen und Herren,
die liberale Demokratie lebt von Vertrauen und davon, dass Menschen sich als Teil eines Gemeinwesens verstehen. Sie lebt davon, dass sie wehrhaft ist – nicht nur militärisch, sondern auch zivilgesellschaftlich. Eine Demokratie kann nur funktionieren, wenn sie von der Bevölkerung mitgetragen wird.
Eine Umfrage der Körber-Stiftung hat gezeigt: Nur 46 % der Deutschen haben großes oder sehr großes Vertrauen in die Demokratie. 51 % blicken mit Sorge in die Zukunft. Drei von vier Bürgern bewerten die wirtschaftliche Lage als schlecht.
Das sind Alarmsignale. In Zeiten des Umbruchs, wie wir ihn heute erleben, ist Angst ein zutiefst menschliches Gefühl. Hinter den politischen und ökonomischen Herausforderungen stehen oft auch seelische Erschütterungen. In vielen Menschen existieren ambivalente Gefühle: Sie wissen, was dieses Land ihnen ermöglicht hat – Sicherheit, Freiheit, Teilhabe. Aber zugleich spüren sie eine wachsende Unsicherheit, eine Entfremdung, ein Gefühl des Nicht-Gemeintseins.
Es ist kein Widerspruch, sich mit einem Land verbunden zu fühlen – und sich gleichzeitig Sorgen um die Zukunft zu machen. Im Gegenteil: Aus dieser Mischung aus Nähe und Sorge, aus Zugehörigkeit und Zweifel kann auch ein Impuls entstehen, sich einzubringen. Wer Angst schürt, statt Wege aus ihr aufzuzeigen, der schwächt eine Gesellschaft. Was wir brauchen, ist ein Mut, der die Realität annimmt und entschlossen handelt.
Sie alle können dabei durch die Arbeit in Ihren Stiftungen eine entscheidende Rolle spielen. Sie helfen, Angst in Handlungsfähigkeit zu verwandeln. Sie schaffen Orte, an denen Menschen erleben: Ich werde gebraucht. Ich kann mitgestalten. Ich bin nicht allein. Wer erinnert, was uns trägt, erkennt auch, was es zu bewahren gilt – und was wir gemeinsam verändern müssen.
Hinzu kommt: Ein Mensch, der sich engagiert, erfährt oft eine tiefere Form des Glücks: nicht als Konsument des Lebens, sondern als Mitverantwortlicher. Die so unterschiedlichen Stiftungen haben etwas Gemeinsames: sie sind in diesem Sinne Orte des tätigen Glücks. Sie bieten einen Raum, in dem Menschen sich mit ihren Überzeugungen, ihrer Kreativität und ihrem Sinn für Gerechtigkeit einbringen können. Das Engagement in einer Stiftung – sei es durch Zeit, Wissen oder finanzielle Mittel – ist nicht nur ein Dienst an der Gesellschaft. Es ist auch ein Akt der Selbstverwirklichung im besten Sinne: Man gibt, aber man empfängt auch. Und oft empfängt man etwas, das mit Geld nicht aufzuwiegen ist – die Erfahrung, Teil von etwas Größerem zu sein.
Das, meine Damen und Herren, unterscheidet unsere offene Gesellschaft von jenen autokratischen Modellen, die heute als vermeintliche Alternativen angepriesen werden: Wir glauben an die Kraft des Gemeinwesens, an Menschen, nicht an Führer. Wir bauen auf Eigenverantwortung der Bürgergesellschaft, nicht auf Gefolgschaft.
In Zeiten des Umbruchs zeigt sich die Reife einer demokratischen Gesellschaft: Zieht sie sich ängstlich zurück? Oder wächst sie an den Zumutungen, die ihr auferlegt werden? Meine Biografie hat mir gezeigt: Mut ist eine Menschenmöglichkeit. Wir können sie ergreifen. Ich bin weiterhin davon überzeugt: Unsere Gesellschaft kann wachsen. Sie kann mutig sein. Sie kann sich verändern, sich anpassen, sich erneuern. Unsere Gesellschaft hat die Kraft und sie kann für Demokratie einstehen – mit Klarheit, mit Haltung, mit Zuversicht. Und Sie, die Stiftungen, sind ein wesentlicher Teil dieser Kraft.
Ich danke Ihnen für Ihre Arbeit, für Ihren Einsatz, für Ihren Mut. Und ich wünsche Ihnen einen inspirierenden Stiftungstag!
Deutscher Stiftungstag – Joachim Gauck, Bundespräsident a.D.